Thomas Manns kurze Erzählung «Beim Propheten» gehört zu meinen Lieblingen. Ein Schriftsteller (der «Novellist») ist Gast bei einer Lesung in einer Dachkammer, irgendwo in der Vorstadt, «wo die Laternen spärlicher werden und die Gendarmen zu zweien gehen». Vorgelesen werden die Welteroberungs-Visionen eines selbsternannten Propheten mit dem harmlosen Namen Daniel. Es liest nicht Daniel selbst, sondern einer seiner Jünger «mit mürrischem, plumpem Gesicht», der aus unerfindlichen Gründen aus der Schweiz kommt. Der Jünger liest mit «wilder und überlauter Stimme» vor, was dem Propheten Daniel so alles einfiel, «in einem Stilgemisch aus Psalter- und Offenbarungston mit militärisch-strategischen sowie philosophisch-kritischen Fachausdrücken in bunter und unabsehbarer Reihe». Thomas Mann beschreibt, mit langen Thomas-Mann-Sätzen. Und dann, schneidend wie ein Seziermesser und gleichzeitig schlagend wie ein Vorschlaghammer, beschreibt er die Reaktion des Novellisten:
«Der Novellist suchte seit längerer Zeit vergebens nach einer passenden Haltung für seinen schmerzenden Rücken. Um zehn Uhr kam ihm die Vision einer Schinkensemmel, aber er verscheuchte sie mannhaft.»
Wie beruhigend das ist! Bei all den geistigen Exzessen und hochtrabenden Planspielen beschäftigen den Novellisten zwei Gedanken: 1. Rücken tut weh 2. Ich habe Hunger.
Dem Novellisten aus dem Jahr 1904 fühle ich mich verbunden. Ich habe selbst öfter die Vision einer Schinkensemmel, aber unbayrisch, in Form eines Silserlis, Schoggiwegglis oder auch Schildkrötlis meiner Lieblingsbäckerei.
Die Weggli-Vision kommt mir, wenn jemand lange und langfädig über Kompliziertes und Abgehobenes spricht. Wenn jemand sich nicht kümmert, ob vom Gesagten etwas ankommt, und in erster Linie einfach schwadronieren will. Es muss nicht einmal um die Welteroberung gehen. Ich denke dann an Weggli. Und ehrlich gesagt, habe ich diese Vision oft nicht erst um 10 Uhr abends, sondern schon um 10 Uhr morgens und danach zu jeder beliebigen Tageszeit. Wenn keine Weggli verfügbar sind, was leider oft der Fall ist, versuche ich wie der Novellist, die Vision mannhaft zu verscheuchen. Ich nehme mir vor, selbst so zu sprechen, dass andere nicht an Weggli denken. Und für den Fall, dass mir das nicht gelingt, nehme ich mir vor, an der nächsten echten Sitzung Weggli zu offerieren.
Nachtrag: «Beim Propheten» ist – wie alle Werke Thomas Manns, der 1955 starb – noch bis 2026 urheberrechtlich geschützt. Auf der Website der Zeit ist der Text bereits jetzt frei verfügbar (nach Registrierung). Lesen lohnt sich. Zumal es nicht nur um den Propheten und die Schinkensemmel geht, sondern auch um Sonja. Der Novellist hatte nämlich «ein gewisses Verhältnis zum Leben».