Diesen November durfte ich an der Promotionsfeier der juristischen Fakultät zu Basel die Abschlussrede halten. Nachdem ich an den diesjährigen Schul-Abschlussfeiern drei Tipps fürs Leben gegeben hatte, dachte ich mir, dass ich den jungen Juristinnen und Juristen auch so etwas aufdrücke. Das war natürlich etwas anmassend. Allerdings: Abschlussreden halten, ist per Definition anmassend. Jedenfalls versuchte ich es wieder mit Tipps, auch weil ich als Jurist weiss: Es muss ja niemand einverstanden sein mit meinen Ideen. Es muss sie auch niemand lesen. Es ist ein freies Land. Nach diesem Disclaimer, den so wohl nur ein Jurist macht, hier also die drei Tipps für Juristinnen und Juristen:

(Wem das zu viel Webseiten-Text ist: hier gibt es die ganze Rede als pdf). 

Mein erster Tipp:

Sehen Sie sich als Dienstleister an der Gesellschaft.

Es gibt ja Menschen, für die ist das Recht die grösste menschliche Errungenschaft. Man kann das so sehen: Ohne Recht gäbe es kein friedliches Zusammenleben, keine Wirtschaftsordnung, die Wölfe würden die Schafe fressen. Und dennoch dient das Recht nur. Juristen entwickeln keine Impfstoffe, bauen keine Häuser und putzen keine Strassen. Juristen reden und schreiben. Sie konstruieren Rahmenbedingungen, die nur halten, wenn die anderen, also die Mehrheit der Nicht-Juristen, sie akzeptieren. Sie, liebe Juristinnen und Juristen, sind Dienstleister an der Gesellschaft.

Ich habe vor, in und seit meinem Studium viele Juristinnen und Juristen getroffen, die glauben, es gehe auf der Welt in erster Linie um sie selbst. Die einen Sachverhalt so erzählen, dass ihn nur Juristen verstehen. Die sich nicht für ökonomische, naturwissenschaftliche oder psychologische Zusammenhänge interessieren, sich möglichst nur mit anderen Juristinnen und Juristen umgeben und tief innen glauben, sie und ihresgleichen seien die Krone der Schöpfung. Ich habe irgendwann begonnen, diese Kolleginnen und Kollegen zu meiden. Ich umgebe mich nach Möglichkeit nur noch mit anderen Juristinnen und Juristen, von denen ich zum Glück einige kenne. Diese anderen Juristinnen und Juristen – zu denen Sie alle sicher gehören – trumpfen nicht auf mit Lehrbuchwissen und sind vielseitig interessiert. Das Beste an diesen anderen Juristinnen und Juristen: Manchmal merkt man gar nicht, dass sie Juristen sind. Sie dienen eben nicht nur dem Recht, sondern andern Menschen, der Gesellschaft. Sie erzielen Wirkung. Und das ist etwas Wunderbares.

Mein zweiter Tipp:

Anerkennen und verteidigen Sie die Komplexität.

Juristen stehen oft im Verruf, nicht nur zu reden, sondern alles zu zerreden, zu komplizieren. Meist ist das eine unberechtigte Kritik. Juristen sind nicht speziell kompliziert. Aber die Welt ist kompliziert, menschliches Handeln ist kompliziert. Wann ist eine Trickserei arglistig und damit betrügerisch? Das geht ja noch als Frage. Aber warum werden gewisse Betrüger erwischt und andere nicht? Wie gross ist eine Schuld, was ist freier Wille, sofern es den gibt, und wieviel ist determiniert durch Gene oder ein soziales Umfeld? Je weiter man fragt, desto unheimlicher wird noch das einfachste Diebstählchen.

Eine Aufgabe der Juristinnen und Juristen ist es, die Komplexität der Welt zu akzeptieren und zu verteidigen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass selbstverständlich jeder Angeklagte die beste Verteidigung verdient, auch wenn der Fall klar scheint. Dazu gehört, dass auch ein Querulant recht haben, obwohl er allen seit Jahren auf die Nerven geht. Dazu gehört, dass es manchmal ok ist, wenn zwei Juristen drei Meinungen haben, auch wenn alle Nicht-Juristen daran verzweifeln. Die Welt ist saumässig kompliziert.

Für Sie ist das nicht ganz einfach: Es bedeutet oft, dass Sie eine Harmonie stören und andere bremsen müssen. Wer Sie um Rat fragt, will immer nur eines: Eine schnelle, eindeutige Antwort. Muss meine Versicherung zahlen? Muss ich ins Gefängnis? Oder, ein Klassiker, mit Freunden im Café: «Wenn ich dreimal nach der Rechnung verlange und dreimal ignoriert werde, dann kann ich doch gehen und muss nicht zahlen, oder?» (Spoiler: Doch, Sie müssen zahlen, auch wenn der Kellner Sie dreimal keines Blickes würdigt). Oder in der Politik: «Du bist doch Jurist. Das mit der Unionsbürgerrechtsrichtlinie im Rahmenabkommen, das hätte die EU doch gar nicht gedurft, oder?» Was soll man da sagen. Erst mal nichts, dann vielleicht mit sanfter Stimme: «Du, ich glaube, es ist komplizierter.» Oder auch: «Du, ich weiss es nicht. Ich müsste dem erst mal nachgehen.» Das ist garantiert nicht das, was Ihr Gegenüber hören will. Aber es sind oft die einzig angemessenen Antworten.

Das Interessante daran: ein «ich weiss nicht» oder ein «waisch, s’isch gar nit so aifach» braucht oft mehr Selbstbewusstsein als das Drauflosschwadronieren.

Sie haben dieses Selbstbewusstsein. Und wenn es Ihnen einmal schwerfällt, bitte denken Sie daran: Es gibt nichts Schlimmeres für die Welt als «les terribles simplificateurs», die Schnellschiesser und die Maulhelden. Bitte seien Sie keiner von denen und helfen Sie mit, denen das Handwerk zu legen. Akzeptieren Sie Komplexität, durchdringen Sie komplexe Sachverhalte, seien Sie nicht zu schnell mit Antworten zufrieden. Und dann versuchen Sie, der Sache zu dienen, indem Sie Komplexes so erklären, dass andere es verstehen können.

Und schliesslich mein dritter Tipp:

Besinnen Sie sich auf die Werte.

Unsere Werte stehen oft im Widerspruch zueinander. Freiheit zum Beispiel ist uns allen ein wichtiger Wert. Gleichheit ist auch ein wichtiger Wert. Aber wenn alle gleich sind, gibt es keine Freiheit für das Individuum. Und wenn die Individuen ganz frei sind, gewinnt immer der Stärkere. Wenn man dem Wolf seine Freiheit lässt, dann frisst er das Schaf. Wenn man den Wolf wie ein Schaf halten will, lebt das Schaf zufrieden, aber der Wolf geht ein. Beides wollen wir nicht. Wir versuchen deshalb verschiedene Werte auszutarieren, ständig, in jedem Gesetz, jeder Verkehrsregel, jeder sozialen Norm.

Als Juristinnen und Juristen bewegen Sie sich in diesen Wertekonflikten. Und Sie werden diese Konflikte nie auflösen können: Denn Werte widersprechen sich.

Und die Beispiele dazu müssen gar nicht so hochtrabend sein. Sagen wir, Sie arbeiten in einer Versicherung. Ihre juristische Einschätzung ist klar: «Dieser selbstverursachte Blechschaden an diesem Auto ist nicht versichert. Wir zahlen nicht.» Dann kommt die Chefin zu Ihnen und sagt: «Ja, aber wir zahlen doch, weil das so ein guter Kunde ist. Loyalität ist uns wichtig. » Sie wenden ein, das sei doch ungerecht gegenüber den anderen Kunden, denen genau solche Schäden nicht bezahlt werden. Ihre Chefin zuckt mit den Schultern: «Wir sind hier kulant, ich will diesen Kunden nicht verlieren, und deshalb zahlen wir». Und in ihrem Kopf dreht das Wertekarussell. Sie dachten an Rechtsgleichheit und da kommt eine mit ganz anderen Werten wie Treue, Loyalität, Kundendienst. Was ist richtig? Eine allgemein gültige Antwort gibt es nicht. Erkenntnis: Es kommt darauf an. Und es soll nie jemand sagen, die Versicherungsbranche sei langweilig!

Noch ein Beispiel, das mich als Politiker und Jurist seit jeher fasziniert: Unser Parlamente sprechen Begnadigungen aus. Jemand wurde rechtskräftig verurteilt, alles lief korrekt, der jemand sitzt im Gefängnis. Und dennoch kann es sein, dass das Urteil als ungerecht empfunden wird und eine qualifizierte Mehrheit gewählter Volksvertreter den Verurteilten begnadigt. Ein Wert wie Gnade hat in einem rein juristischen Weltbild gar keinen Platz. Gnade vor Recht walten lassen, hallo, das geht eigentlich nicht! Ja, eine perfekt austarierte Juristenwelt bräuchte keine Gnade. Aber irgendwie wollen wir so eine Welt nicht. Zum Glück behält die Gnade seit Jahrhunderten ihre Nische, selbst bei den Juristen.

Werte stehen in Konflikt zueinander. Es gibt keine Auflösung dieses Konflikts, in der Praxis nicht, aber eben auch nicht in der Theorie. Ich finde es enorm wichtig, dass Sie sich dessen immer wieder bewusst sind. Egal ob Sie in einer Versicherung Schadensfälle abarbeiten, im Erziehungsdepartement Zeugnisrekurse beurteilen oder in einer Kanzlei vormittags für 400 Franken die Stunde eine reiche Erbin und nachmittags pro bono einen Taschendieb beraten – Sie stehen immer wieder vor Wertfragen und werden keine allgemein gültige Antwort finden. Und genau das ist das Wichtige: Zu akzeptieren, dass es keine eindeutigen Antworten gibt. Und dann eine angemessene, gute Antwort zu suchen.

So, das war jetzt nicht die leichteste Kost für Sie alle an einem Samstagmorgen im November. Übrigens hätte ich noch ganz viel, was ich Ihnen gerne sagen würde: Zum Beispiel, dass Humor und Juristerei eine viel engere Beziehung eingehen sollten. (Und spezifische Tipps für Juristinnen und Juristen in der Politik hätte ich auch noch, die gibt es hier). Ich lasse es aber. Denn ich habe gelernt, dass zu viele Argumente eine Rechtschrift verderben können und das gilt sicher auch für Abschlussreden.

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