Meine Abschlussreden machen mir jedes Mal Bauchweh. Was soll ich sagen? Dieses Jahr ging ich voll in die Offensive und gab den Absolventinnen und Absolventen ungefragt drei Tipps fürs Leben.

Mein erster Tipp, frei nach Nike: Just do it.

Der zweite Tipp: Beherzigt den ersten Tipp erst recht, wenn es unbequem ist.

Und der dritte Tipp: Selbstzweifel sind kein Grund, an sich zu zweifeln.

In der etwas längeren Version ging das so:

«Ich will Ihnen heute drei Tipps für Ihr Leben nach der Zeugnisübergabe geben. Sie haben mich zwar nicht nach Tipps gefragt. Aber die Tipps sind dermassen gut, dass ich Sie Ihnen einfach erzählen muss.

Mein erster Tipp: Trauen Sie sich. Tun Sie es einfach. Handeln ist besser als Nichthandeln.

Ich gebe Ihnen das ultimative Beispiel aus meinem Leben: Vor mittlerweile sehr vielen Jahren habe ich mich, nach minutenlangem inneren Ringen, dazu durchgerungen, eine mir fremde Frau anzusprechen. Das löste viel aus (ich überlasse das ihrem Kopfkino). Um es ganz kurz zusammenzufassen: Heute ist diese fremde Frau meine Frau und ich ihr Mann.

Ich hatte, zugegeben, schon vor diesem Tag manchmal Frauen angesprochen, bei denen es dann nicht zur Heirat und meist zu überhaupt gar nichts führte. Aber entscheidend für mein Leben war, dass ich in diesem einen Moment gehandelt und diese eine fremde Frau angesprochen habe.

Wie oft haben Sie schon bereut, jemanden angesprochen zu haben? Wie oft haben Sie bereut, irgendwo hingereist zu sein? Jemandem geholfen zu haben? Oder irgendwo widersprochen zu haben?

Ja, ich weiss, manchmal haben Sie es bereut.

Das ist, ich gebe auch das zu, das Problem beim Handeln und sich Trauen: Es klappt nicht immer. Man tut nicht in jedem Fall das Richtige. Es gibt Situationen, in denen man lieber nichts getan hätte.

Wer nie etwas sagt, eckt nie an. Aber wird auch nie gehört. Wer nirgendwo hinreist, landet nie in einem Hostel voller Kakerlaken, aber sieht auch nichts von der Welt. Wer nie jemanden anspricht, gewinnt kaum Freunde. Und verpasst die eine Person fürs Leben. Wer nie Vertrauen schenkt, wird nie ausgenutzt. Aber was bitte ist ein Leben ohne Vertrauen?

Deshalb, als Motto und im Zweifel: Handeln ist besser als Nichthandeln.

Just do it. Die wissen schon, warum sie so viele Sneakers verkaufen.

Mein zweiter Tipp: Tun Sie es erst recht, wenn es unbequem ist.

So vieles passiert nie, weil es jemand unangenehm fand, sich zu bewegen und zu handeln. Weil jemand nicht bereit war, ein bisschen Unbequemlichkeit zu ertragen. Beim Handeln geht es ja nicht immer um Mut. Es geht oft nur um das Überwinden eines inneren Widerstands und der eigenen Trägheit.

Ich mache Ihnen ein sehr unangenehmes Beispiel: Sie alle haben schon einen Brief von der Steuerverwaltung bekommen. Es braucht keinen Mut, diesen Brief aufzumachen, aber lustig ist es garantiert nicht. Wenn man den Brief nicht aufmacht, passiert lange nichts. Aber irgendwann gibt es Ärger.

Ich weiss natürlich, dass Ihnen das völlig klar ist. Und das ist genau der Punkt: Wir alle wissen, dass die Vogel-Strauss-Kopfvergrab-Taktik nichts bringt. Wir alle wissen, was wir eigentlich gerade sofort tun sollten, und landen dann doch erstmal in unserem Instagram-Feed.

Das ist blöd. Das muss nicht sein.

Handeln, auch wenn es unbequem ist, vermeidet nicht nur gröberen Ärger. Die Überwindung des inneren Widerstands ermöglicht erst die wirklich tollen Erlebnisse.

Ich brauchte einen Bergsee, um das zu merken.

Das ging so: Es war das zweitletztes Schuljahr, ein zweitätiger Schulausflug im Juni. Es war heiss. Wir wandern irgendwo in unserem schönen Land, wir kommen an einen hellblau glitzernden Bergsee und es wird eine Pause ausgerufen. Der See ist mutmasslich sehr kalt und Badesachen hat keiner dabei. Einigen in meiner Klasse ist das egal. Sie springen in den See, in Unterwäsche und T-Shirt, kreischen, spritzen, lachen, robben wieder aus dem See, legen sich in die Sonne mit einem seligen Lächeln. Es war in diesem Moment, als ich mir das erste Mal etwas unter dem Wort «erquickt» vorstellen konnte.

Ich bin damals nicht in den See gesprungen.

Die Kälte von kaltem Wasser, dachte ich mir, die ist doch am Anfang immer ein bisschen unangenehm. Und es war mir unangenehm wegen meiner unmodischen Unterhosen.

So blöd. Ich war so blöd.

Deshalb: Tun Sie es einfach, auch wenn der Anfang etwas unangenehm ist. Springen Sie in jeden Bergsee. Es lohnt sich.

Und mein dritter Tipp: Nehmen Sie ihre Selbstzweifel nicht so ernst. Alle haben Selbstzweifel.

Ich kenne die meisten von Ihnen nicht persönlich. Aber ich weiss, dass sie alle manchmal an sich zweifeln. Sich unsicher fühlen. Denken, dass andere viel mehr können als Sie. Die gute Nachricht: So geht es allen. Das ist normal. Selbstzweifel sind sozusagen kein Grund, an sich zu zweifeln.

Warum denken wir oft, dass wir allein sind mit unseren Zweifeln? Wir alle erleben nur, was in unserem eigenen Kopf vorgeht. Wir hören nur eine einzige innere Stimme. Sie flüstert uns, dass wir etwas nicht können, oder erinnert uns an Dinge, die uns misslungen sind.

Ich höre Ihren inneren Monolog nicht. Niemand ausser Ihnen hört ihn. Und Sie auf der anderen Seite sehen nicht, was in meinen Kopf vorgeht.

Vielleicht glauben Sie, ich sei zum Beispiel selbstbewusster als Sie, weil ich hier eine Rede halte.

Da muss ich Sie enttäuschen. Heute morgen noch quälte mich die Frage, ob das nicht gar banal ist, was ich Ihnen da zum Leben erzähle. Und was meine hoffentlich anwesenden Wählerinnen und Wähler davon denken. Ob es nicht peinlich ist, wenn ich als 43-Jähriger etwas über Instagram sage. Ob ich etwas über TikTok sagen soll, oder ob das noch peinlicher wäre. Ob mir nachher wieder einmal jemand schreibt, ich sei so cringe. Und ich dann nachschauen muss, was das bedeutet.

Selbstzweifel.

Aber es ist nicht schlimm, alle haben diese Zweifel. Sie und ich und die Person, die Sie nie angesprochen haben, weil Sie sich nicht trauten. Das zu wissen, finde ich enorm entspannend.

Nun bin ich bin am Ende meiner Weisheiten angelangt. Die Zeugnisübergabe naht. Wobei eine habe ich noch. Eine wirklich gute Weisheit.

Es gibt im Leben Momente, die einzigartig sind. Weil etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Manche dieser Momente sind bitter, manche sind süss, und die meisten sind irgendwie bittersüss. Ein solcher Moment ist besonders speziell: das Ende der Schulzeit.

Unterschätzen sie den Moment nicht, in dem Sie sich gerade befinden.

Ich kann heute noch nach 25 Jahren dieses Gefühl zurückholen und ganz vielen Eltern und Lehrpersonen in diesem Saal geht es auch so.

Deshalb mein extrem wichtiger Tipp: Geniessen Sie diesen Moment in vollen Zügen. Sie haben sich das so etwas von verdient.

Und vor allem: Dehnen sie den Moment aus! Auf heute Abend. Auf viele Abende danach. Auf Tage danach, an denen sie nichts tun ausser lang schlafen, baden gehen, Freunde treffen, verreisen und so weiter. Dehnen Sie den Moment mindestens so lang aus, bis Ihre Eltern finden, es werde jetzt etwas gar lang.

Und wenn der Moment dann vorbei ist: Handeln Sie und trauen Sie sich selbstbewusst auch auf unbequemes Terrain. Sie haben gerade eine Topausbildung abgeschlossen. Die Tür zu einer spannenden Welt steht weit offen. Kommt gut!

Ich danke Ihnen allen, dass Sie mir zugehört haben.

Und vor allem gratuliere ich Ihnen, liebe Absolventinnen und Absolventen, von ganzem Herzen zu Ihrem Abschluss.»

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