Damals, als 15- oder 16-Jähriger, habe ich mich mit Hermann Hesses Helden identifiziert. Näher als der Siddhartha oder der Steppenwolf standen mir Peter Camenzind und Hans Giebenrath, die beiden Protagonisten aus dem Frühwerk Hesses.

Besonders dieser Hans Giebenrath aus Unterm Rad zeigt die Gemütslage von Hesse selbst, als dieser Internatsschüler im evangelisch-theologischen Seminar im Kloster Maulbronn war. Es war meine eigene pubertäre Gemütslage und wohl die Gemütslage ganz vieler Jugendlicher fast aller Zeiten und Kulturkreise. Das ist eines der Geheimnisse Hesses: Seine besondere Begabung, die Situation junger Erwachsener allgemeingültig einzufangen.

In nüchterner Schulaufsatz-Sprache beschreibt Hesse die intimen Nöte und Zwänge Heranwachsender, wenn sie sich in gesellschaftliche Disziplinierungssysteme eingliedern müssen. Und schlimmstenfalls drohen, «unters Rad» zu kommen. In Unterm Rad schreibt Hesse bitter ironisch:

«Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Feindliches. Er ist […] ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft zu machen […].»

Dieses Zitat betrifft mich heute besonders. Die staatliche «Erziehung» ziert seit 1875, zwei Jahre vor Hesses Geburt, den Namen meines Departementes. Als Vorsteher trage ich die magistrale Verantwortung für die gesellschaftliche Disziplinierung, die Kinder und Jugendliche heute an den Basler Schulen erfahren. Zum Glück geht es dort heute anders zu. Der Lehrplan 21 kann Hesse in seiner steifen Korrektheit sprachlich nicht das Wasser reichen. Inhaltlich aber hält er Wichtiges fest: Unsere Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden

«zu einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebensführung, die zu verantwortungsbewusster und selbstständiger Teilhabe und Mitwirkung im gesellschaftlichen Leben in sozialer, kultureller, beruflicher und politischer Hinsicht führt.»

Nicht mehr «obrigkeitlicherseits gebotene Nützlichkeit» steht im Zentrum staatlicher Bildungsmassnahmen, sondern die nachhaltige Befähigung zur autonomen Lebensführung. Dass darin die Nützlichkeit für die Gesellschaft selbstverständlich mitgedacht ist, darf man zugeben. Und auch, dass das Befähigen nicht immer ohne Disziplinierung geht.

Die heutigen Basler Schulen sind ganz anders als das Maulbronner Internat von damals, das mit seinen «Wohltaten» für Geist und Körper das «begabte Kind» Hans Giebenrath schliesslich zugrunde richtet. Aber auch an unseren Schulen stellt sich täglich die Frage: Wie können Kinder und Jugendliche in der Schule ihre persönlichen Begabungen entfalten und ihren individuellen Interessen nachleben? Wie bahnt sich der Weg der Sozialisation durch den «undurchsichtigen Urwald Mensch», ohne ihn zu «zerbrechen», zu «besiegen» und «gewaltsam einzuschränken»?

Hesse hat diese Fragen früher und eindringlicher gestellt als andere. Und er stellt sie in seinem Frühwerk so, dass er uns auch heute noch ins Grübeln bringt. Ich jedenfalls bin froh, dass ich seine Bücher damals verschlungen habe, und früh auf Fragen gestossen bin, mit denen ich mich heute als «Erziehungsdirektor» befassen darf.

(Dieser Blog-Beitrag ist in leicht anderer Form in der Basler Zeitung vom 9. Dezember 2021 erschienen)

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