Es war im Juni 1997, gut drei Monate nach meinem 18. Geburtstag, als die Schweiz mich erstmals nach meiner Meinung fragte. Ich durfte abstimmen. Zur Auswahl standen die Volksinitiative «EU-Beitrittsverhandlungen vors Volk!», die Volksinitiative für ein Verbot der Kriegsmaterialausfuhr und der Bundesbeschluss über die Aufhebung des Pulverregals. Ich fühlte mich geehrt und überfordert. Ich las mich ein und fand heraus, dass ein «Pulverregal» kein Gestell für Waschmittel ist, sondern eine Vorschrift, wonach nur der Bund die Sprengstoffherstellung beaufsichtigen darf. Nach einigen Tagen hatte ich zu allen drei Vorlagen eine klare Meinung und stimmte ab. Seither fragt mich der Staat immer wieder, viermal im Jahr, zu nationalen, kantonalen und kommunalen Themen. In der Schweiz ist der Meinungsdruck systembedingt hoch, staatlich gefördert und moralisch gewünscht. Das ist fordernd und manchmal überfordernd, aber es funktioniert.
Mit der Wahl in den Grossen Rat, kurz vor meinem 27. Geburtstag, wurde für mich alles komplizierter. Ich war nun Parlamentarier. Und ich hatte zu so vielem gar keine Meinung. Bis dahin hatte das zum Glück niemand gemerkt, aber das würde sich nun ändern. Mein Abstimmungsverhalten wird öffentlich und ich muss zu einer Unzahl von Fragen Stellung nehmen, bestimmt 50 Abstimmungen pro Monat. Jederzeit kann mich jemand fragen, wie mich zu Flüsterstrassenbelägen, Sportanlagenkonzepten oder Abwassergebühren verhalte.
Ich sah keine Chance, mir zu allem selbst eine Meinung zu bilden. Eine eigene faktenbasierte Meinung zu entwickeln, ist harte Arbeit. Das schaffte ich nicht zu jedem Thema auf der parlamentarischen Tagesordnung. So ging ich zur diskreten Meinungslosigkeit über. Ich liess mich von meiner Fraktion leiten, von der Neuen Zürcher Zeitung oder den Empfehlungen von Verbänden. Und kam mir dabei vor wie ein Hochstapler. Ich erwartete täglich, dass mich jemand durchschaute. Aber meine Hochstapelei flog auch nach Monaten nicht auf. Ich beobachtete und kam langsam zum Schluss, dass alle Politiker Meinungshochstapler sind. Alle plapperten in den meisten Themen einfach die Meinungen anderer Leute nach. Es gibt Ausnahmen, aber die sind keine Vorbilder: Posaunenpolitiker, die zu allem eine dezidiert eigene Meinung haben, von der Aufstellung der Nationalmannschaft bis zum Nahostkonflikt. Diese Politiker (und seltener Politikerinnen) sind laut, werden auch gehört, aber doch deutlich weniger ernst genommen, als sie selbst denken.
Bei mir kam mit der Zeit die Akzeptanz der eigenen Überforderung: Man kann und muss nicht zu allem eine eigene Meinung haben. Wenn ich mir zu allem eine Meinung bilden will, verzettle ich mich und bleibe oberflächlich, statt in die Tiefe eines Themas zu gehen. Sicher wäre es ehrlicher, die eigene Meinungslosigkeit zu bestimmten Themen jeweils offen einzugestehen: «Da habe ich keine Ahnung. Fragen Sie doch jemand anderen». Doch das ist für Politiker heikel. Die Öffentlichkeit erwartet Meinungen von uns und am Ende müssen wir abstimmen und können uns nicht in 80 Prozent der Fragen enthalten. Wer aber zu allem und jedem seine genuin eigene Meinung haben will, kann nicht seriös politisieren.
Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Ja. In Themen, von denen ich wenig Ahnung habe, darf ich mich auf andere Menschen verlassen. Auf vertrauenswürdige Menschen, deren Werte ich teile und von denen ich weiss, dass sie sich sorgfältig mit der Sache auseinandergesetzt haben. Dann stimme ich entsprechend ihrer auf Expertise und Analyse gründenden Empfehlung ab. Das ist die einzig mögliche politische Arbeitsteilung. Die grösste Schwierigkeit dabei: Diese Vertrauensmenschen zu finden.
Nachtrag: Die Überforderung betrifft zu meiner Beruhigung (oder doch Beunruhigung?) nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern schlicht alle, wie der brillante Oliver Burkeman in seiner Guardian-Kolumne feststellt: «Everyone is totally just winging it, all the time.» Und ein beeindruckendes Beispiel für ein eigentliches Hochstapler-Syndrom in luftiger Stilhöhe findet sich bei Max Frisch. Er schildert den «Botschafter einer Grossmacht»: «Er hat eingesehen, dass er gar nicht die Exzellenz ist, für die ihn die Welt, unter Kronleuchtern empfangen, zu halten vorgibt.» (Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt a. M. 1964, S. 182 ff.)