Immer wieder darf ich Reden an Diplom-, Matur- und Abschlussfeiern halten. Das ist jedes Mal eine grosse Ehre und Freude. Und jedes Mal macht es mir Bauchweh. WAS SAGEN?
Ein Veteran der gepflegt harmlosen Politikerrede (nein, ich verrate seinen Namen nicht) versuchte mich vor Jahren zu beruhigen:
«Nimm es locker. Die jungen Leute warten auf ihre Diplome und das Feiern mit Familie und Freunden. Deine Rede steht dazwischen. Sie soll deshalb kurz sein. Du gratulierst und streust ein paar Weisheiten, die du bei Goethe, Schiller oder Winnie the Pooh findest. Und sei nicht traurig, wenn dir keiner zuhört.»
Recht hatte er bei der Kürze. Nicht 30 Minuten sprechen, wie die Schule respektvoll anbietet, sondern höchstens 15. Und gratulieren ist wichtig, klar. Aber sonst war das ein miserabler Ratschlag.
Die jungen Menschen am feierlichen Übergang zu einem neuen Leben wollen weder Allgemeinplätze noch Zitatenzauber. Sie erwarten zurecht, dass man sich Mühe gibt. Und sie hören zu. Sofern die Rede nicht langweilig ist.
Das Bauchweh blieb mir. Eine nicht langweilige, glaubwürdige Abschlussrede zu halten, ist schwierig. Es gibt tolle Vorbilder: humorvolle, ungekünstelte Reden mit viel Weisheit. Am Besten können es wohl die Amerikaner und die Briten.
Ich habe drei Beispiele aus der Abschlussreden-Champions-League herausgesucht, die mich begeistern. Sie sind frei zugänglich und ich lege sie allen ans Herz, die Reden halten dürfen oder in diesem noch immer unfeierlichen Jahr eine anständige Abschlussrede vermissen:
- J. K. Rowling, The Fringe Benefits of Failure, and the Importance of Imagination, Harvard Abschlussrede von 2008 (Text / Video / Text auf Deutsch als Buch)
J. K. Rowling erinnert sich zunächst an ihre eigene Abschlussfeier:
«The commencement speaker that day was the distinguished British philosopher Baroness Mary Warnock. Reflecting on her speech has helped me enormously in writing this one, because it turns out that I can’t remember a single word she said.»
So macht sie weiter, mit schwärzer werdendem britischen Humor, und gleichzeitig ist sie sehr ernst. J.K. Rowling spricht über Versagensangst, Rückschläge und Armut.
«You might never fail on the scale I did, but some failure in life is inevitable. It is impossible to live without failing at something, unless you live so cautiously that you might as well not have lived at all – in which case, you fail by default.»
Sie spricht über Phantasie und Einfühlungsvermögen – nicht um Geschichten zu schreiben, sondern um sich in andere Lebenswelten einzufühlen und mitzufühlen.
«We do not need magic to change the world, we carry all the power we need inside ourselves already: we have the power to imagine better.»
Und sie fordert die Harvard Absolventen sehr direkt auf, ihren Status und ihren Einfluss zu nutzen und sich nicht nur mit den Mächtigen zu identifizieren, sondern auch den Machtlosen.
- Steve Jobs, Stay Hungry, Stay Foolish, Standford Abschlussrede 2005 (Text / Video / Text auf Deutsch)
Steve Jobs Rede ist schnörkellos und direkt. «Today I want to tell you three stories from my life.» Er spricht über seine College-Erfahrung (ohne Abschluss), sein Rausschmiss bei Apple und seine Krebs-Diagnose. Sein Rat:
«You’ve got to find what you love. And that is as true for your work as it is for your lovers. Your work is going to fill a large part of your life, and the only way to be truly satisfied is to do what you believe is great work. And the only way to do great work is to love what you do. If you haven’t found it yet, keep looking. Don’t settle. As with all matters of the heart, you’ll know when you find it. »
Man kann den «Follow your passion»-Rat durchaus kritisch sehen. Nicht immer ist es der beste Tipp, nach immer Besseren zu suchen. Doch Jobs Botschaften klingen nach und nie zweifelt man, dass die Rede in jedem Wort aufrichtig ist. Echte gute Rhetorik.
- David Foster Wallace, This is Water, Kenyon College 2005 (Text / Audiomitschnitt / Text auf Deutsch als Buch)
David Foster Wallace, der grosse schwierige Schriftsteller, der sich 2008 schwer depressiv das Leben nahm, ist nicht der typische Optimismus und Aufbruch verkündende Abschlussredner. Seine Sätze sind lang, seine Stimme gepresst. Es ist egal, weil die langen Sätze brillant sind. Die Rede handelt von Unsicherheit
«a huge percentage of the stuff that I tend to be automatically certain of is, it turns out, totally wrong and deluded»)
Es geht um das «default setting» der Selbstbezogenheit und seine Versuche, ein gewisses Mass an Kontrolle über das eigene Denken zu bekommen
«As I’m sure you guys know by now, it is extremely difficult to stay alert and attentive, instead of getting hypnotised by the constant monologue inside your own head (may be happening right now).»
Das ist harte Kost. Es ist gleichzeitig grandios lustig, wenn Wallace vom wiederkehrenden Supermarkt-Erlebnis am Ende eines langen Tages erzählt:
«The store is hideously lit and infused with soul-killing muzak or corporate pop and it’s pretty much the last place you want to be but you can’t just get in and quickly out; you have to wander all over the huge, over-lit store’s confusing aisles to find the stuff you want and you have to manoeuvre your junky cart through all these other tired, hurried people with carts (et cetera, et cetera, cutting stuff out because this is a long ceremony.)»
Für diese Rede gebe ich meine nachdrücklichste Leseempfehlung. Zu geniessen auf Englisch oder auch auf Deutsch, kongenial übersetzt von Ulrich Blumenbach, der in Basel lebt und zum Glück die verdiente Anerkennung findet, die Übersetzerinnen und Übersetzern oft versagt bleibt.
Nachtrag: Und wie enden die Reden? Mit guten Wünschen natürlich. J.K. Rowling: I wish you all very good lives. Steve Jobs: Stay hungry, atay foolish. Und David Foster Wallace, der mir auch hier am besten gefällt: I wish you way more than luck.